Die Vermessung der Welt

**Dass die Parkettleger im Museum Wiesbaden überaus präzise gearbeitet haben, hat wohl nie jemand ernsthaft bezweifelt. Bewiesen ist das allerdings erst, seit Frank Gerritz zehn Eisenblöcke auf dem Boden des Eingangsoktogons platziert hat. **

Die tonnenschweren, aber schlanken, jeweils exakt 14 mal 163 mal 14 Zentimeter messenden Quader reihen sich dort in immer gleichem Abstand zu einer strengen rechteckigen Form. Passgenau treffen die Ecken und Kanten dieser wie Bahnschwellen proportionierten Elemente auf die Fugen und Stöße der Holzdielen. So profitiert das eigens für den Ort geschaffene Werk von einer handwerklichen Solidität, ohne die dessen Schöpfer seine Denkweise jetzt kaum so eindrucksvoll demonstrieren könnte.

Unter dem Titel „Temporary Ground“ stellt Gerritz, der 1964 in Bad Oldesloe geboren wurde und seit langem in Hamburg lebt, Skulpturen und Zeichnungen der vergangenen drei Jahrzehnte aus. Sie setzen Mensch, Raum und letztlich die Welt in ein so genau vermessenes Verhältnis zueinander, dass dieser abstrakte Plan zu einer geradezu körperlichen Erfahrung wird. Dabei sind die eisernen Klötze gar nicht so minimalistisch uniform, wie sie aussehen. Denn die zu ihrer Herstellung benötigte Energie hat auf der geschuppten grauen Oberfläche Spuren hinterlassen, so dass keiner dem anderen gleicht. Kaum zu glauben, dass eine so stille Kunst gewissermaßen aus dem Vorhof zur Hölle kommt. Wie es in der Gießerei zugeht, wo das knapp 1400 Grad heiße Material in einem unvorstellbar aufwändigen Verfahren verarbeitet wird, zeigt im Übrigen ein über die Homepage des Museums abrufbarer Film. Gerritz‘ Kunst ist freilich weniger ironisch als die Heavy-Metal-Klänge, von denen die bewegten Bilder begleitet werden.

Auch als Zeichner bleibt Gerritz Plastiker. Das zeigen schon die raumhaltigen Bildträger, die er noch dazu mit beinahe handbreitem Abstand zur Wand aufhängt. So verwandelt er Faserplatten nur mit Bleistift in dichte, dunkelmetallisch schimmernde Materie. Tiefschwarze, mit ölhaltigem Stift erzeugte Geometrie auf Aluminium wiederum vermisst den silbrigen Untergrund ebenso exakt, wie es Gerritz‘ Skulpturen mit Räumen tun. Dass die Oberfläche dieser Arbeiten Bewegungen und Farben reflektiert, setzt sie abermals ins Verhältnis zu Raum und Betrachter, mithin zur dritten Dimension.  

Die zentrale Einheit bei Gerritz‘ Berechnungen bildet die von ihm definierte Größe eines menschlichen Kopfes, 20 Zentimeter nämlich. „Center“ heißt deswegen der Eisenblock, der dieses Maß verkörpert und an den Urmeter denken lässt. Auf einem Sockel und unter gläserner Haube wird er in Wiesbaden inszeniert wie eine Reliquie in einem Altarraum. Umringt ist das Objekt dort zwar nicht von Jawlenskys „Heilandsgesichtern“, sondern von dessen „Meditationen“. Zu einer so sehr vom Gedanken bestimmten Kunst passen diese nahezu abstrakten Köpfe aber mindestens ebenso gut.

Urmeter? Reliquie? Center!

Eine derart von der Dreidimensionalität bestimmte künstlerische Idee, wie Gerritz sie formuliert, erschließt sich nur mehr schlecht als recht über digitale Wege. Bleibt also zu hoffen, dass die Ausstellung auch bald für das Publikum öffnen kann und mehr Besucher als die wenigen Medienmenschen sie sehen, die sich mit einer Pressekonferenz im Homeoffice nicht begnügen wollten, sondern an Ort und Stelle die exklusive Gelegenheit der analogen Betrachtung nutzten.

Frank Gerritz: On Temporary Ground, Museum Wiesbaden, bis 29. August.