Reflexion auf das eigene Ende oder: Das bin ich

**Gerhard Richter ist neunzig Jahre alt geworden. Anlass für Ausstellungen in Köln, Düsseldorf und Dresden, die sich zu einer Art dezentralen Retrospektive summierten. Außerdem: eine Entdeckung in der Einsamkeit der Oberlausitz. **

An Hagenwerder fährt man leicht vorbei. Auf einer wenig frequentierten Bundesstraße, an der der Görlitzer Ortsteil liegt, oder in der Neißetalbahn, die ihn mit dem Bahnhof der polnischen Grenzstadt verbindet und dann nach Zittau weiterzuckelt. Für Fremde gibt es auf den ersten Blick keinen Grund, dort auszusteigen. Die Straßen wirken wie leergefegt. Ein Schild an einem verwaisten Ladenlokal erinnert noch daran, dass sich darin einst ein „Frischemarkt“ befand. Geschlossen ist auch der „Imbiss-Kiosk Treff“, und von der Sparkasse sind nur noch die Schatten der abmontierten Leuchtschrift auf einem kleinen Pavillon übrig.

Vor dieser Kulisse kommt so schnell niemand auf die Idee, dass die Kunstgeschichte ihren Mantel um Hagenwerder gelegt hat. Und doch: Ein Sgraffito auf der Giebelwand des ehemaligen Schulhauses hat man jetzt als ein Frühwerk von Gerhard Richter identifiziert. Es zeigt eine stilisierte Landkarte der Region um Görlitz und eine Sonnenuhr.

Und doch: Das Sgraffito, das seit Mitte der Fünfzigerjahre auf der Giebelwand eines ehemaligen Schulhauses prangt, wurde als Frühwerk von Gerhahrd Richter identifiziert.
Und doch: Das Sgraffito, das seit Mitte der Fünfzigerjahre auf der Giebelwand eines ehemaligen Schulhauses prangt, wurde als Frühwerk von Gerhahrd Richter identifiziert.

Im Zentrum der grafisch reduzierten Komposition auf ockerfarbenem und grauem Grund erscheint die Stadt als rostbraunes Quadrat mit abgerundeten Ecken. Breite, weiße Linien, die aus allen Himmelsrichtungen auf diesen Knotenpunkt zulaufen und sich durch ihn hindurchfädeln, markieren die – optisch nicht voneinander unterscheidbaren – Verkehrswege: Straßen, Schienen, die Neiße. Dazwischen verweisen Piktogramme unter anderem von Rindern, Ähren und Kraftwerken auf die Industrie- und Landwirtschaftszweige, auf die man in der Gegend einst stolz war. Die DDR-Flagge auf der linken und das polnische Pendant auf der rechten Seite helfen bei der geografischen Orientierung. Ein Atommodell indes bildet das zentrale Motiv der Sonnenuhr und verbindet damit die älteste Form der Zeitmessung mit dem Ausdruck eines bedingungslosen Vertrauens in den technischen Fortschritt.

Das Bild lässt noch nicht unbedingt darauf schließen, dass sich sein Schöpfer einmal zu einem der berühmtesten und teuersten Maler der Gegenwart entwickeln würde. Aus der abstrahierten Darstellung, die den Normen des damals geltenden sozialistischen Realismus keineswegs entsprach, lässt sich eine individuelle künstlerische Haltung aber durchaus herauslesen. Das in seiner Umgebung einzige Ergebnis erkennbaren Gestaltungswillens blieb womöglich auch deswegen so lange ein Werk ohne Autor, weil es sich Passanten nicht gleich zu erkennen gibt, sondern sich von der Straße abgewandt in Richtung Polen präsentiert. Dort tut sich weites Feld auf und plätschert die Prießnitz – ein Nebenärmchen der Lausitzer Neiße, die die Staatsgrenze bildet.

Friedlich plätschert die Prießnitz.

Streng genommen handelt es sich bei der Kunst am Schulbau von Hagenwerder freilich um eine Rekonstruktion. Denn nur kurz nach der Erkenntnis, dass dort einst Gerhard Richter zugange war, stellte sich heraus, dass das Original 2003 der Renovierung des Gebäudes zum Opfer gefallen war. Die Lokal-Ausgabe der Bild-Zeitung berichtete groß über den Mann, der „den Richter von der Wand gekloppt“ hat, aber selbst vor dem damals ja noch anonymen Künstler zumindest so viel Respekt hatte, dass er die ursprüngliche Version vorher abgepaust und nach dieser Vorlage anschließend wieder aufgebracht hat.

Dass man in Hagenwerder also kein Werk von Richters Hand mehr vor sich hat, dürfte ihn selbst am wenigsten stören. Tatsächlich wird er heute nur ungern an seine frühe Vergangenheit als Wandmaler erinnert. Das zeigte sich schon, als bei der Renovierung des Dresdner Hygienemuseums seine Diplomarbeit unter einer weißen Farbschicht auftauchte. Gerne hätte man das „Lebensfreude“ betitelte Motiv aus dem Jahr 1956 am Licht belassen, hat es auf Richters eigenes Beitreiben hin jedoch abermals übertüncht. Dass das Wandbild in Görlitz-Hagenwerder in einigen Details wohl eher frei rekonstruiert wurde, hat für ihn einen weiteren Vorteil: Dafür, dass die polnische Flagge auf dem Kopf steht, kann man ihn jetzt nicht mehr verantwortlich machen. 

Dass die Wandbemalung von Hagenwerder Gerhard Richter zugeschrieben werden muss, hat man passenderweise kurz vor seinem 90. Geburtstag entdeckt. Das Jubiläum war kein Anlass für eine zentrale Retrospektive. Wohl aber haben ihm die Museen in den für seine Biographie maßgeblichen Städten jeweils einige Säle freigeräumt und dort seine komplexe Position aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Im nur etwa eineinhalb Autostunden von Hagenwerder entfernten Dresden, wo der Künstler am 9. Februar 1932 geboren und später zunächst zum Wandmaler ausgebildet wurde, hat man seine Position so ausführlich wie kompakt illustriert und drei aufeinanderfolgende Räume des Albertinums mit stattlichen 40 Exponaten gefüllt. Unter dem schlichten Titel „Gerhard Richter“ räumte die Schau auf mit der landläufigen Auffassung vom beziehungslosen Nebeneinander der für seine Position charakteristischen Werkgruppen „Portraits, Glas, Abstraktionen“.

Dafür, dass sich die im Ausstellungsuntertitel aufgezählten Genres im Gegenteil buchstäblich durchdringen, lieferten zwei Gemälde ein besonders augenfälliges Beispiel: Ein 1983 entstandener, 55 mal 50 Zentimeter messender „Schädel“ zeigt ein menschliches Cranium ohne Unterkiefer vor einem durch eine senkrechte und eine waagrechte Linie in drei Flächen geteilten Hintergrund. Je ein schwarzes und ein hellgraues Hochrechteck auf einem reflektierenden Querrechteck in Sandfarbe deuten die Ecke eines Raumes nur an, bleiben im Grunde aber abstrakt. Zu sehen war das Bild an der hinteren Wand des ersten Ausstellungsraums rechts neben dem Durchgang. An der gleichen Position des zweiten Raumes hing ein 1996 entstandenes und nahezu gleich großes Selbstporträt des damals 64-Jährigen in dem für ihn typischen Stil eines verschwommenen Fotos. Die beiden Tafeln befanden sich zwar nicht im selben Raum. Richter, der zugleich Kurator seiner Ausstellung war, hatte die Gesetze der Perspektive aber dergestalt zu nutzen gewusst, dass man sie nebeneinander sah. So geriet die Schau auch zur Reflexion auf das eigene Ende, was wiederum belegt, dass dem Künstler der Weltruhm nicht zu Kopf gestiegen ist: Für unsterblich hält er sich jedenfalls nicht.

Dass es das Auge schwer hat, den Totenschädel zu fixieren, ist auch dem spiegelnden Glas geschuldet, hinter dem er präsentiert wird und das den Unwirklichkeitsfaktor des Motivs noch erhöht. Der Widerschein der Umgebung legt sich dadurch wie eine zweite Schicht auf die Bildfläche. In Dresden mischte sich das Memento Mori mit den lebensfrohen Farben des abstrakten Streifenbildes „Strip“ aus den Jahren 2013/2016, das sich im rechten Winkel dazu zehn Meter breit über die Wand erstreckte.

Richters oft etwas spröde wirkenden Installationen aus Spiegeln und Glasscheiben wiederum brachten in Dresden die Museumswände ins Wanken. Die Wechselwirkung zwischen Reflexion und Transparenz verwandelte den Raum in einen Tunnel, in dem die Betrachter ihren eigenen Standort aus den Augen verloren. Ganz zu schweigen davon, dass das Gefühl dafür abhanden kam, ob man gerade das Original der „4900 Farben“ sah oder das von einem „Spiegel“ und „9 Stehenden Scheiben” reflektierte Abbild der wandhohen Abstraktion.

Zwischen Transparenz und Reflexion: Richters
Glas-Installationen holen den Raum
(und mit ihm die Betrachterin) ins Spiegel-Bild.

Richters Farbraster fehlten in Dresden ebenso wenig wie die gerakelten Leinwände. Hinzu kamen Landschaften, die Orte zeigen, an denen Richter mit seiner Familie war und von denen man nicht weiß, ob man sie romantisch oder bedrohlich finden soll. Um seine Frauen und Kinder handelt es sich bei der beeindruckend umfänglich ausgestellten Porträtreihe, die die komplette achtteilige Reihe „S. mit Kind“, die frühe „Betty“ aus dem Jahr 1977 (einmal nicht in der vom Betrachter ab-, sondern in der ihm verstörend direkt zugewandten Version) und den 2019/20 entstandenen „Moritz“ als Baby-Pummel einschloss. In Dresden schien Richter nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben auszubreiten. Als wolle er sagen: Das bin ich.  

In Düsseldorf, wohin Richter 1961 vor dem Mauerbau geflohen war, an der Akademie dann erst studierte und später auch selbst lehrte, ehrte ihn das K21 mit einer Ausstellung, die ein einzelnes Werk in den Fokus rückte: den Birkenau-Zyklus. Die vier monumentalen Hochformate sind bedeckt von Schlieren vor allem in Grau, Blau und Rot, die ein Übereinander nicht zu zählender Farbschichten offenbaren. Schon ihr Titel verrät, dass sie so abstrakt, wie es scheint, nicht sind. Tatsächlich hat Richter in der ihm eigenen Rakel-Technik die einzigen bekannten Fotografien, die Häftlinge aus dem Inneren des KZs von Auschwitz-Birkenau gemacht haben, quasi unkenntlich gemacht. Der Vergleich dieses Vorgehens mit einem Palimpsest – ein durch vielfache Überschreibung verfremdeter Inhalt also – ergibt selten so viel Sinn wie bei dieser Werkgruppe. Mit dem Birkenau-Zyklus, der das nicht Darstellbare der NS-Gräuel versinnbildlicht, ohne dazu zu schweigen, erhält Adornos Diktum, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr geschrieben werden kann, ein bildnerisches Gegenstück. Dass man die Vorlagen ebenfalls ausgestellt hat, wäre allerdings nicht nötig gewesen, weil sie nur zu müßigen Bildvergleichen verleitet und den Gemälden damit etwas von ihrer Ambivalenz genommen haben.

Im Kontrast zum bedrückenden Thema des Birkenau-Zyklus stehen Richters aktuelle Arbeiten. Wie er selbst sagt, bringt er inzwischen zwar keine großen Formate mehr hervor. Dass er trotzdem noch erfreulich aktiv ist, zeigten in Düsseldorf Zeichnungen, deren zittriger Strich an Cy Twombly erinnert, und übermalte, kaum postkartengroße Fotos, auf denen Vordergründe zu Hintergründen von kleinen, mit traumwandlerischem Gefühl für Form und Proportion gesetzten Farbgebirgen werden. Nach Jahren der Einhegung erlaubt er seiner Künstlerhand, wieder frei und sichtbar zu werden. Eine Entdeckung!

Wie erschreckend aktuell abstrakte Kunst sein kann: „Krieg“ aus dem Jahr 1991 in Köln.

In seiner Heimatstadt Köln schließlich hat Richter mit dem 2007 vollendeten Fenster im Südquerhaus des Doms bereits ein Werk für die Ewigkeit hervorgebracht. Direkt nebenan, im Museum Ludwig, kam die ihn ehrende Sonderausstellung mit Bordmitteln aus. Fünf sammlungseigene Werke umspannen sämtliche seiner Schaffensphasen. Dass sich Richter schon seit den sechziger Jahren mit der schwer definierbaren Grenze zwischen Schein und Sein beschäftigt, belegen Malereien wie die „Fünf Türen“ ebenso wie Fotografien von „Neun Objekten“ im Escher-Stil. Überstrahlt werden die Exponate freilich von dem berühmten Duchamp-Kommentar „Ema (Akt auf einer Treppe)“ aus dem Jahr 1966. Das andere Ende der Timeline bildet ein an der Wand lehnender Scheiben-Stapel aus dem 21. Jahrhundert, der den Raum (und mit ihm die Betrachterin) ins Spiegel-Bild holt. Wie konkret und selten aktuell abstrakte Kunst sein kann, führt ein Ölgemälde aus dem Jahr 1981 beklemmend deutlich vor Augen. Die Leinwand bedecken Farbschlieren in Feuerrot, explodierendem Gelb und Raketengrau. Ihr Titel: „Krieg“.