Schutzwälle zu Radwegen

**In friedlicher Mission auf dem ehemaligen Todesstreifen: Der Berliner Mauerradweg macht deutsch-deutsche Geschichte buchstäblich erfahrbar.**

Die Mauer war der Tod. Für zu viele Menschen, die den knapp vier Meter hohen „antifaschistischen Schutzwall“ in Richtung Westen überwinden wollten. Für vermutlich noch weit mehr als die 140 sogenannten Mauertoten, deren Namen und tragischen Schicksale bekannt sind. Um zu verhindern, dass sie fast dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der DDR in Vergessenheit geraten, hat man an jenen Orten, wo diese Leben so jäh endeten, orangefarbene Stelen aufgestellt: kleine Mahnmale mit Fotos und Biografien der Männer und Frauen sowie Berichten über ihre verzweifelten Versuche, die deutsch-deutsche Grenze zu überwinden. Dort ist man ihnen plötzlich ganz nah.

Erinnerung an die Mauertoten

Am Ufer des Sacrower Sees etwa hat man vor Augen, wie Rainer Liebeke 1986 nachts mit einem Freund durchs Schilf robbt und will sich nicht vorstellen, was in ihm vorging, als die Wachposten Alarm schlugen. Der 35-jährige Familienvater gilt als „bei einem Fluchtversuch ertrunken“. Man sieht Hermann Döbler ins Boot steigen, mit dem er 1965 die Grenzlinie im Teltowkanal überfährt und daraufhin erschossen wird. Er war 43 Jahre alt und ebenfalls Familienvater. Wie sich Willi Block wiederum in den Stacheldrahtrollen verheddert, die ihn von Spandau in West-Berlin trennen, und er von Gewehrsalven tödlich getroffen wird, ist kein Horrorfilm, sondern wurde 1966 schreckliche Realität.

Dass auf dem ehemaligen Todesstreifen geschossen wurde, ist glücklicherweise Vergangenheit. Heute wird er friedlich genutzt: Wo von 1961 bis 1989 die Mauer stand, die West-Berlin vom anderen Deutschland abriegelte, wird seit 2006 auf einem Radweg buchstäblich erfahrbar. Seine Länge beziffert der Reiseführer auf 160 Kilometer. Aus praktischen Gründen bietet sich das Brandenburger Tor als Ausgangspunkt an: Das Wahrzeichen der Stadt kann man nicht verfehlen, und direkt um die Ecke befindet sich eine Fahrrad-Leihstation. Den ersten Teil des Weges säumen Touristenmagneten wie Reichstagsgebäude, Bundeskanzleramt, Holocaust-Mahnmal und Museen. Wer das nicht ohnehin schon alles kennt, unternimmt dafür besser mal eine Städtetour. Wir steuern jedenfalls die weniger bekannten Symbole der noch jungen, aber schon merkwürdig verblassten Geschichte der deutschen Teilung an.

Dafür müssen wir uns zunächst den mühsamen Weg durchs Stadtzentrum bahnen. Der Verkehr tost, und viel zu selten begegnet man Schildern, die den „Berliner Mauerweg“ weisen. Dass die Täfelchen meist winzig klein sind und absurd hoch hängen, kommt erschwerend hinzu. Deswegen klebt unser Blick zunächst auf der Straße, wo ein zweireihiges Kopfsteinpflasterband über weite Strecken den Mauerverlauf nachzeichnet. Das Axel-Springer-Haus in Kreuzberg ist Anlass für einen ersten Stopp: 19 Stockwerke stapeln sich direkt an der damaligen „Sektorengrenze“ zu einer Höhe von 78 Metern. 1959, also zwei Jahre, bevor die Mauer entstand, wurde der Grundstein für diesen provokanten Bau gelegt. Ein Jahr danach wurde er zum Schauplatz einer Flucht aus Ost-Berlin: Der Grenzgänger Rudolf Müller grub dort einen Tunnel, um seine von ihm getrennte Familie aus dem Ostteil der Stadt zu sich zu holen. Die Flucht gelang. Sein Leben verlor dagegen ein DDR-Soldat, der sich der Gruppe in den Weg stellte. Dass das deutsch-deutsche Thema aber auch nach 1989 ein „Balanceakt“ bleibt, suggeriert seit 2007 Stephan Balkenhols so betitelte Figur vor der Fassade des Verlagsgebäudes.

Ein Kunstwerk anderer Art lässt man natürlich auch nicht links liegen: 1,3 Kilometer lang ist das Stück Original-Mauer, das Sprayer in die East Side Gallery verwandelt haben. Es erhebt sich in Friedrichshain zwischen Spree-Ufer und einem unkultivierten Grünstreifen. Angesichts eines direkt am Wasser gelegenen Cafés und ein paar im Moment noch seltener Sonnenstrahlen erliegen wir der Versuchung einer frühen Rast.

Erstaunlich schnell wird die Hauptstadt dann zum platten Brandenburger Land. Auf der asphaltierten flachen Strecke parallel zum Teltowkanal ist Pfadfindertalent nicht mehr nötig, und es radelt sich entspannt. Von Idylle kann trotz schütterer Birkenwäldchen aber noch keine Rede sein – auf der anderen Seite des Weges verläuft die A 113, von der uns eine hölzerne und mit Graffiti überzogene Wand notdürftig abschirmt.

Zumindest im Hinblick auf die Streckenlänge zeichnet sich schon früh eine gewisse Ungenauigkeit der Reiseliteratur ab. Die einzelnen Abschnitte, in die sie den Radweg unterteilt, summieren sich auf deutlich mehr als 160 Kilometer. Das lässt sich wohl nur so erklären, dass Topographie und spätere Bebauung bisweilen zu Abweichungen vom Mauerverlauf zwingen, die den Weg entsprechend verlängern. Am Ende jedenfalls stehen 220 Kilometer auf dem Tacho, die man – anders als wir – besser nicht in drei, sondern in vier Etappen aufteilt. Denn gerade am ersten Tag zieht es sich, und das erste Übernachtungsziel Potsdam will einfach nicht näherkommen. Längst haben wir das Gefühl dafür verloren, ob wir gerade auf dem West-Berliner Zollweg oder doch auf dem Ost-Berliner Kolonnenweg unterwegs sind, auf dem die ehemaligen DDR-Grenzposten Kontrolle fuhren. Bevor wir in Schönefeld zum dritten Mal im Kreis fahren, geben wir auf. Diese schwere Entscheidung reden wir uns damit schön, dass wir mit Gropiusstadt, Mahlow, Lichterfelde und Griebnitzsee nicht unbedingt die attraktivste Teilstrecke „schnibbeln“. Die verbleibenden 40 Kilometer überwinden wir in einem Großraumtaxi mit hilfsbereitem Fahrer und haben danach wieder bessere Laune.

Auch in Potsdam heben wir uns die touristischen Ziele für einen eigenen Besuch auf.  Museum Barberini, Filmmuseum oder Schloss Sanssouci lassen wir also links liegen und stoppen dafür kurz in dem idyllisch in einem Park am Seeufer gelegenen „Kleinen Schloss Babelsberg“. Ursprünglich als Gartenhaus geplant, wurde es 1841 für den späteren Kaiser Friedrich III. errichtet. Später verstellte die Mauer die privilegierte Sicht. Dass das neogotische Anwesen jetzt saniert wird, war höchste Zeit. Von der blassgelben Fassade bröckelt der Putz. 

Sanierungsbedürftig: Das Kleine Schloss Babelsberg

Nur zwei Kilometer weiter steht das Schloss Glienicke. Zwei goldene Greife und ein ebensolches Monogramm des einstigen Hausherrn Prinz Carl schmücken das gusseiserne Eingangstor. Leicht verblichen ist dagegen das Foto von Churchill, Truman und Stalin, das dort noch immer auf eine Ausstellung hinweist, die schon 2020 zu sehen war und die Potsdamer Konferenz zum Thema hatte. Am nahen Schloss Cäcilienhof, in dem 1945 Europa neu geordnet wurde und das dann auch die historische Schau beherbergte, kommen wir später auch vorbei.

Den Havelseen sei Dank, führt der Weg jetzt am Wasser entlang. Schon von Weitem sehen wir die Glienicker Brücke, die in das Jahr 1907 datiert, aber zum Symbol des Kalten Krieges wurde. Das stählerne Fachwerk überspannt die Havel und setzt ein menschengemachtes Zeichen in die Flusslandschaft. Informationstafeln erinnern daran, dass die Verbindung zwischen Potsdam und Berlin früher nur von Diplomaten, Militärs und den Geheimagenten betreten werden durfte, die dort in Nacht- und Nebelaktionen ausgetauscht wurden. Wir sind dankbar, die Seiten heute entspannter wechseln zu können. Noch immer markieren die unterschiedlichen Farben des Brückenanstrichs die damalige Innerlandesgrenze: In der Mitte stoßen ein hellerer westlicher und ein dunklerer östlicher Grünton aufeinander.

Ein besonders groteskes Beispiel für die Blüten, die die deutsch-deutsche Teilung trieb, liefert die Heilandskirche am Sacrower See. Der „Campanile“ des für Friedrich Wilhelm IV. 1844 nach italienischem Vorbild errichteten Gotteshauses wurde zum Bauteil der Mauer, die wiederum das Kirchengelände in zwei Hälften zerschnitt. Die Geschichte des Bauwerks, das bis zur Wende im Niemandsland verfiel, endet happy: Schon 1989 fand dort wieder ein Gottesdienst statt. Der hübsch sanierte Bau mit einem von Arkaden gerahmten Postkartenblick aufs Wasser ist heute auch Ausflugsziel. Unterdessen hat sich das Ufer zu einer Premium-Wohnlage entwickelt. Zu den Anrainern gehörte auch der 2014 früh verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher.

Indes scheint im „Kleingarten-Verein Sacrow/Meedehorn e. V.“ die Zeit stehen geblieben zu sein. Am Zaun lehnt eine mit Kreide beschriebene Tafel, die verrät, dass sich darin auch das Ausflugslokal „Giardino“ befindet – ein nüchterner kleiner Pavillon, in dem man uns aber freundlich empfängt und mit Pasta, Käsekuchen und Berliner Weiße bewirtet. Die Betreiber füllen eine Marktlücke. Denn abseits der Städte sind Stärkungsmöglichkeiten nicht eben dicht gesät.

Am Groß Glienicker See stoßen wir auf zwei denkmalgeschützte Mauersegmente, fahren danach ein Stück parallel zu einer breiten Autostraße, biegen aber schon bald wieder ab in die Natur. Der Mauerweg heißt dort noch ganz offiziell Grenzweg. Hinweisschilder von enormer Größe erinnern anschließend in regelmäßigen Abständen daran, bis zu welcher Stunde Deutschland und Europa an entsprechender Stelle geteilt waren.

Greifbar wird Geschichte auch in der Freiluftausstellung „Spurensuche“. Zwischen dem Westberliner Bezirk Spandau und der Brandenburger Nachbarstadt Falkensee informiert sie darüber, welche Auswirkung die Teilung auf die dortigen Bewohner hatte und wie sie sich mit dem Leben am Grenzstreifen arrangiert haben. Dass wir unser Etappenziel diesmal ohne größere Mühen erreichen, verdanken wir auch einem älteren ortskundigen Ehepaar und dessen detaillierter Wegbeschreibung. Nach letzten Kilometern durch den Spandauer Forst machen wir Station in einem Hotel am Havelufer in dem an dieser Stelle überraschend idyllischen Spandau.

Spurensuche bei Spandau

Vor der Rückkehr ins Berliner Zentrum begegnet uns am dritten Tag noch einmal pure DDR: Mitten im Wald ist ein originaler Grenzturm erhalten geblieben. Heute wird er sinnvoller genutzt und dient als Vereinsheim der Deutschen Waldjugend. Gleichzeitig gehört er zu einem Freiluft-Museum mit Schranke, Stacheldraht und diversen Info-Tafeln. Ein rostiges Stück „Stalin-Rasen“ ist ein besonders widerwärtiges Exponat. So nannte man in der Erde vergrabene Eisenmatten, aus denen 14 Zentimeter lange Dornen aufragten und Fliehenden schlimmste Verletzungen zufügten.

Spätestens am S-Bahnhof Wilhelmsruh, dessen östliche Seite einst zugemauert war, hat uns die Zivilisation wieder. Mehrspurig fließt der Verkehr über die Bornholmer Brücke. An dem seinerzeitigen Grenzübergang ging am Abend des 9. November der erste Schlagbaum hoch.

Über den Schwerdter Steg gelangen wir in den Mauerpark, der übrig geblieben ist von der Berliner Bewerbung für Olympia 2000. Dort erfreuen sich jetzt Menschen jeden Alters und unterschiedlichster Herkunft ihres Lebens. Unser Ziel haben wir schon eine Weile vor der Ankunft vor Augen: Der alles überragende Fernsehturm am Alexanderplatz rückt näher und näher. 70 Meter Original-Mauer machen die deutsch-deutsche Trennung auf der Bernauer Straße zu guter Letzt noch einmal greifbar. Das Relikt ist jetzt Teil einer Gedenkstätte nebst Dokumentationszentrum. Wir halten dort aber nicht an, sondern rollen direkt zum Fahrradladen hinter dem Brandenburger Tor und geben unsere Bikes ab. Anschaulicher als während der vergangenen drei Tage kann dieses Kapitel Weltgeschichte jetzt nicht mehr werden.