Ringparabel revisited

Der Ring war weg. Verloren irgendwo in einem Eukalyptus-Hain auf dem australischen Inselchen Raymond Island. Wie mir das kostbarste Schmuckstück, das ich besitze, abhandenkam, ist das Ergebnis von Leichtsinn und Gedankenlosigkeit, zu banal also, um erzählt zu werden. Dass und auf welchem Wege er zu mir zurückfand, kann ich dagegen manchmal selbst noch nicht glauben.

Wegen der vielen Koalas, die dort leben, ist Raymond Island ein beliebtes Reiseziel. Auch wir waren vom Anblick der schläfrigen Fellknäuel begeistert. Bis ich am Ende unseres Spaziergangs den Verlust des Rings bemerkte. Den Blick nun nicht mehr nach oben in die von Koalas bevölkerten Wipfel gerichtet, sondern an den Boden geklebt, schritten wir den Weg zwar noch einmal ab, entdeckten aber nichts außer Sand und vertrocknetem Laub. Unverrichteter Dinge fuhren wir schließlich weiter. Mir war schlecht.
Immer wieder fragte ich mich dasselbe: Was, wenn noch jemand den Ring findet? Und wie könnte ich davon erfahren? Ungläubig, aber einfach, um nichts unversucht gelassen zu haben, hinterließ ich eine persönliche Nachricht auf der Facebook-Seite von Raymond Island, schrieb von der Besucherin aus Deutschland, die von den Koalas entzückt war, aber eben leider auch ihren wertvollen Ring verloren hat und jetzt um Mithilfe bei der Suche nach der Nadel im Heuhaufen bittet. Vom Unglücksort waren wir mittlerweile mehrere hundert Kilometer entfernt.
 
In der Warteschleife
 
Ein erster Trost war die prompte Reaktion der Seiten-Administratorin, die ihren Namen nicht gern veröffentlicht und hier deshalb Shirley heißen soll. Sie fühlte mit mir („so sorry to hear that“) und hatte schon einen Aufruf gepostet. Nicht einmal eine Stunde später ereignete sich das schier Unmögliche: Eine Anwohnerin schrieb, dass sie den Ring gefunden und bei der örtlichen Polizei abgegeben hätte. Noch bevor ich selbst danach suchen konnte, hatte mir Shirley die Telefonnummer der Station geliefert. Ein Anruf führte zunächst allerdings nicht weit. Der uninspirierte Officer, bei dem ich nach musikalisch unterlegter Warteschleife, elektronischem Dialog und Callcenter-Konversation gelandet war, schien an der Lösung meines Problems bestenfalls mäßig interessiert. Weder könne man mir den Ring nachsenden, noch dürfe ihn jemand anderes für mich abholen, ließ er wissen. Hatte ich also nur die Wahl, entweder meine Reiseroute umzuwerfen oder den Ring in Australien zurückzulassen? Dies wollte er dann aber auch nicht bestätigen. Unwillig verwies er mich stattdessen an seine Chefin, die morgen wieder im Büro sei. Wenn ich ihm meine Kontaktdaten gäbe, würde sie sich bei mir melden. Am nächsten Tag tat sich allerdings: nichts. Das gleiche am übernächsten. Am überübernächsten Tag rief ich selbst noch einmal an, was nach einer endlosen Warteschleife abermals im Callcenter endete. Dort empfahl mir eine Stimme, die Nummer zu wählen, unter der ich sie gerade erreicht hatte, dann brach das Gespräch ab.
 
Darling
 
Um aufzugeben, war es zu spät. In einer Email an die Polizeistation wiederholte ich meine Bitte, eine Touristin dabei zu unterstützen, ihren Ring wiederzubekommen und erhielt tatsächlich eine Antwort der Dienststellenchefin. Sie gab mir ihre Durchwahl und forderte mich auf, sie zurückzurufen. Das musste sie nicht zweimal tun. Carla, die ich sofort an der Strippe hatte, nannte mich Darling, schwärmte von meinem schönen Ring und beteuerte, dass sie schon x-mal versucht habe, mich zu erreichen. Aber ihr Kollege habe alles falsch gemacht: Nicht nur habe er meine Email und Telefonnummer falsch notiert, sondern mich auch falsch informiert. Sehr wohl könne ich jemanden beauftragen, den Ring für mich abzuholen. Er läge am Front Desk der Polizeistation bereit.
 
„Look what I’m holding here“
 
Shirley hatte längst angeboten, diesen Job für mich zu erledigen und übernahm. „Look what I’m holding here“ lautete ihre nächste Nachricht in unserem mittlerweile auf stattliche Länge angewachsenen Chat. Dazu ein Foto meines Rings zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger. Noch nicht beantwortet war damit allerdings die Frage, wie der Ring zu mir gelangen würde. Ihn nach Deutschland zu schicken, wäre aufwändig und teuer gewesen. Praktikabler, wenn auch riskanter schien es, dass Shirley ihn in einem Express-Brief an das Strandhotel schickte, wo wir vier Tage später ankommen und unsere letzte Urlaubswoche verbringen sollten.
 
War der Postbote krank?
 
Gesagt getan. Über die Sendungsnummer verfolgte ich den Weg der kostbaren Fracht. Am Abend vor dem avisierten Zustellungstermin wurde es nochmal spannend: Obwohl sich der Brief mittlerweile in einer nur 25 Kilometer von unserem Hotel entfernten Stadt befand, hieß es nun, dass sich die Auslieferung um einen Tag verzögerte. Zwei Tage später würden wir abreisen. War der Postbote krank? Länger? Am nächsten Morgen aber Entwarnung: Die Rezeption rief an und teilte mir mit, dass ich den Brief an der Post-Station unseres Urlaubsortes abholen könnte. Einen zehnminütigen Spaziergang später hielt ich ihn in meinen Händen. Darin ein herzerwärmendes Schreiben der Absenderin und der penibel verpackte Ring.
 
Menschen, die an das Gute glauben lassen
 
Zum Dank für so viel Ehrlichkeit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft hätte ich ja am liebsten einen Koala adoptiert. Aber dagegen hätte wohl unser Kater protestiert. Deswegen freue ich mich, dass ich der Auffangstation „Koalas of Raymond Island“ bei der Begleichung ihrer Tierarztrechnung helfen konnte. Mit der Insel verbinde ich jetzt keinen schmerzlichen Verlust mehr, sondern erinnere mich neben possierlichen Beuteltieren auch an Menschen, die an das Gute glauben lassen. Der verschnarchte Officer wurde hoffentlich ins Archiv versetzt.