Raster, Muster, Zeichen
Eine Ausstellung in Stuttgart zeigt Malerei, Film und Skulptur von Sarah Morris
Miami von oben: ein Gitter aus Boulevards, dazwischen blasse Fassaden, künstlich bewässertes Grün, türkis leuchtende Pools und sattgelbe, das Jahr hindurch scheinende Sommersonne. Das Mosaik aus waagrecht, senkrecht und diagonal verfugten Drei- und Vierecken, mit dem Sarah Morris 2003 eine quadratische Leinwand überzogen hat, erscheint nur auf den ersten Blick wie eine kleinteilige, eiscremefarbene Antwort auf die Hard-Edge-Malerei der Fünfziger- und Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Indes verwandelt sich die scheinbar ungegenständliche Komposition vor dem inneren Auge schnell in ein Bild der Süd-Florida-Metropole. Der suggestive Titel „Pools – Coco Walk (Miami)“ tut dazu ein Übriges.
Ein knapp halbstündiger Film untermauert den Eindruck, dass sich hinter der Abstraktion eine zeitgenössische Landschaftsmalerei verbirgt. Morris hat daran zur gleichen Zeit gearbeitet wie an dem Gemälde, und der Titel verweist auf den Drehort: „Miami“. In mittelschneller Folge und ohne wirklichen Plot reihen sich darin Szenen aneinander, die die harten Kontraste der Großstadt auf den Punkt bringen: Hochhäuser und Tiefgaragen, ältere, oft übergewichtige, aber aufwändig frisierte Herrschaften in Supermärkten und junge, gestählte Körper beim Aerobic, Sonnenanbeter am Luxus-Strand und das Personal, das gegen ein Trinkgeld Sonnenschirme aufspannt, palmenbestandene Uferpromenaden und ein schwer bewaffneter Polizeieinsatz. Nicht immer wirken die Motive so cool und jugendlich wie die von Morris‘ früherem Ehemann Liam Gillick komponierte Lounge-Musik, die sie untermalt.
Gemälde und Film sind Teil einer umfangreichen Retrospektive, die das Kunstmuseum Stuttgart der 1967 in England geborenen, aber seit langem in New York beheimateten Künstlerin derzeit widmet. Um ihre eigenen Codes zu entschlüsseln, tut Morris dort noch mehr. So gehört zu den dokumentarischen Materialien, die in Vitrinen präsentiert werden und einen Einblick in ihre Arbeitsweise gewähren, auch ein Stadtplan von Miami. Die geometrische, farbig unterlegte Struktur der in Zeiten digitaler Navigationssysteme nostalgisch anmutenden Drucksache wirkt dabei wie eine Vorlage für das Gemälde, mit dem Morris, die nicht Kunst, sondern Semiotik studiert hat, ein Zeichen für die soziale, politische und ästhetische Widersprüchlichkeit der Metropole geschaffen hat.
Der chronologisch geordnete Rundgang über drei Ausstellungsebenen führt zu weiteren „Städteporträts“, die nach ähnlichem Muster funktionieren: Leuchtend farbige Raster und Schemen, deren urbane Identität durch Beschilderung und filmische Pendants eher bestätigt als enthüllt wird. Wie viel Morris‘ gemalte und bewegte Bilder voneinander wissen, zeigt der brandneue, in Hongkong gedrehte und zum großen Finale der mit dem kulturpessimistischen Titel „All Systems Fail“ überschriebenen Ausstellungstournee uraufgeführte Film „ETC“. Abermals stehen sich darin Gegenätze gegenüber, die den Organismus der Stadt repräsentieren: Tag und Nacht, Tradition und Moderne, Glitzer und Hinterhof, Natur und Architektur. Das Auge der Künstlerin indes sucht nach der Geometrie von Treppen, Baumstämmen, Absperrgittern, Müllbündeln, Fassaden oder Container-Terminals. Durch ihre Kamera betrachtet, ist ein in Plastikfolie verpacktes, mit farbigem Klebeband senkrecht und waagrecht verschnürtes Fenster, das ein einem Kran durch die Luft schwebt, kein Objekt mehr, sondern eine Morris-Malerei.
Wald und Hochhausfassaden wiederum gehen in dem eigens für Stuttgart geschaffenen Wandgemälde „Property“ eine vertikale Verbindung ein. Für ihr jüngstes In-situ-Werk, das mit 134 Quadratmetern so groß ist wie eine komfortable Etagenwohnung, ist der zentrale, zwei Geschosse durchschneidende Ausstellungsraum prädestiniert.
Begonnen hat Morris‘ künstlerische Laufbahn in den frühen Neunzigerjahren mit Schrift-Bildern: „No Loitering“, „Beware of the Dog“ oder – eine Referenz auf das Patronenkaliber – „45“ bellt es den Betrachtern darauf in leuchtenden Farben und formatfüllenden Versalien und Zahlen entgegen. Der aus dem Kontext gelöste und künstlerisch gestaltete Text von Ge- und Verbotsschildern hinterfragt gesellschaftliche Restriktionen. Zwar fand Morris erst später zu ihren charakteristischen 214 mal 214 Zentimeter großen Leinwänden, aber von Anfang an machte sie ihre unmittelbare Umgebung zur Inspirationsquelle.
Neben visuellen Eindrücken ist Morris‘ Kunst bisweilen auch beeinflusst von persönlichen Erlebnissen. So zog eine Werkserie, in der sie – passenderweise stets quadratische – Origami-Musterbögen verarbeitete, einen Rechtsstreit um das Copyright nach sich. Mit dem Ergebnis, dass die entsprechenden Werk-Angaben nun immer die Namen der Urheber dieser Muster enthalten müssen. Den mit der juristischen Auseinandersetzung verbundenen Papierkram hat die Künstlerin produktiv zu nutzen gewusst und Büroklammern zum Bildgegenstand gemacht: Die typische Form dieser Bürokratie-Metaphern aus parallelen, kreisförmigen sowie in spitzen und rechtwinklig gebogenen Linien ist wie gemacht für die großflächige Verfremdung. „Soundgraphs“ indes, die die Tonspuren eigener Filme visualisieren, bringen noch einmal die Nähe zwischen Morris‘ gemalten und bewegten Bildern zum Ausdruck, während „Spiderwebs“ auf Spinnweben zurückgehen, die sie während der Pandemie in ihrer Wohnung entdeckt hat, und die ihrer Vorliebe für Netzwerke ungewohnt organische Gestalt geben.
Zu den Ausstellungsstücken gehört nicht zuletzt ein wie ein Readymade auf einem Sockel platziertes Walkie Talkie, aus dem blecherne Polizeifunk-Fetzen ertönen. Als brauchte es noch einen Beweis dafür, dass die formalen Strukturen, die Sarah Morris ins Bild setzt, ein Interesse an gesellschaftlichen, politischen und auch Machtstrukturen spiegeln.
Sarah Morris. All Systems Fail. Kunstmuseum Stuttgart; bis 9. Februar 2025. Der Katalog kostet 40 Euro.